Gerrit Nieberg: „Lieber eine Konstanz, als immer auf Teufel komm raus zu gewinnen“

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Er lebt gerade seinen Traum. Nach dem sensationellen Sieg im Rolex Grand Prix beim CHIO Aachen mit seinem Ben und einem fünften Platz im Grand Prix in Calgary schwebt Gerrit Nieberg auf Wolke sieben. spring-reiter.de hat den strahlenden 29jährigen zum Interview beim CHI Genf getroffen, bei dem er das erste Mal am Start ist und wo er im Rolex Grand Prix am Sonntag angreifen will. Mit ihm haben wir über sein Erfolgs-Jahr gesprochen, über seine talentfreien Zonen, hohe Ziele, seine Philosophie, seine schlimmste Angewohnheit und ein unkonventionelles Weihnachtsfest.

„Das ist im Moment so der Traum, der in Erfüllung geht. Es war immer mein Ziel, bei diesen großen Turnieren mitzumachen. Und da ich gerade sehr gute Pferde habe, bin ich natürlich super froh und glücklich, dabei sein zu können“, beschreibt Gerrit Nieberg seine aktuelle Gefühlslage. 

Er ist zusammen mit seinem Freund Philipp Schulze Topphoff und dessen Schwester Marie in die Schweiz gereist. Hat den Pferde-LKW selber gesteuert. Das macht er meistens. Gerrit Nieberg ist „bodenständig, geerdet und sehr positiv“, wie er sich selber beschreibt. An das Turnier in Genf hat er trotzdem hohe Erwartungen. Auch wenn er weiß: „Natürlich muss ich mich erst mal für den Großen Preis qualifizieren.“ 

2022 ist er verdammt weit gekommen. „Dieses Jahr war das erfolgreichste meiner bisherigen Karriere, das ist gar keine Frage. Aber natürlich habe ich auch etwas Blut geleckt und das macht Lust auf mehr. Ich will mich da schon auch etablieren und beweisen, dass das nicht nur so ein einmaliges Jahr war. Ich möchte versuchen, da eine gewisse Konstanz rein zu kriegen“, erklärt die derzeitige Nummer 60 der FEI Weltrangliste. Aktuell gehört er zum Olmypiakader, spielt also ganz oben mit. „Dass ich im Olympiakader aufgenommen wurde, hat mich tatsächlich sehr stolz gemacht. Und ich bin auch froh, dass ich im Moment zu dem engeren Kreis gehöre.“ 

In Stuttgart durfte er bei einer Ehrung der erfolgreichsten Reiter des Jahres 2022 neben seinem Vorbild Daniel Deusser auf dem Podium stehen. Feuerwerk inklusive. Dabei ist ihm so viel Aufmerksamkeit um seine eigene Person eher unangenehm. „Das war ein cooler Moment. Aber tatsächlich stehe ich nicht so gerne im Mittelpunkt. Ich fühle mich wohler auf dem Pferd.“ 

Luft nach oben ist sportlich gesehen natürlich immer. „Die Europameisterschaft ist so ein Ziel im nächsten Jahr“, verrät Gerrit Nieberg. Für dieses Jahr bei der WM in Herning hat es noch nicht ganz gereicht. „Aber jetzt bin ich vielleicht noch etwas dichter dran“, hofft Nieberg. Auch wenn er weiß: „Klar muss auch die Form wieder stimmen, müssen die Ergebnisse passen, um überhaupt da wieder in den engeren Kreis zu kommen. Aber das ist klar unser Ziel.“ Natürlich möchte er auch im März zu dem nächsten Major, den Dutch Masters mit Rolex Grand Prix in s‘Hertogenbosch, möchte er auch zum Weltcup-Finale in Omaha. 

Dafür ist es natürlich wichtig, dass seine beiden Top-Pferde Ben und Blues d’Aveline CH gesund bleiben. „Sie sind beide derzeit sehr gut drauf“, freut sich ihr Reiter. Ben, so Gerrit, merkt es immer, „wenn es richtig, richtig ernst wird.  Vielleicht bin ich dann auch noch etwas angespannter und er merkt das. Wenn er richtig an ist, ist er auch schwer zu bremsen, dann muss man sein Temperament etwas zügeln. Aber das ist auch das, was ihn am Ende auszeichnet. Sein enormer Wille, seine Einstellung zum Sport. Das er alles geben möchte, alles richtig machen möchte.“

Auch wenn er sich ab und an von Äußerlichkeiten irritieren lässt, wie Gerrit verrät. 

„Wenn auf dem Abreiteplatz viel los ist, Lärm und Musik, das kann er nicht ganz so gut haben. Hoffentlich lässt er sich hier von der Lautstärke auf den Tribünen nicht beeindrucken, vor allem wenn Schweizer Reiter einreiten, ist es hier sehr laut.“

Er selber lässt sich nur schwer aus der Ruhe bringen, so schnell regt sich ein Gerrit Nieberg nicht auf. „Da muss echt viel passieren, dass ich sauer werde. Eigentlich passiert das so gut wie nie.“ Natürlich ärgert er sich über sich selber, wenn es im Parcours mal nicht so läuft und er weiß, dass er es vergeigt hat. Und dann braucht er auch mal einen Moment, das zu verdauen.

Daher macht er sich immer einen genauen Plan. Und so etwas Aberglaube ist auch immer dabei. „Tatsächlich ziehe ich vor jeder Prüfung immer meinen rechten Stiefel zuerst an und den rechten Handschuh. Das ist so eine Angewohnheit. Und damit hört es mit dem Aberglauben aber auch schon auf“, lacht Gerrit. 

Auch wenn er in Genf nach seinen Erfolgen in Aachen und Calgary zum Favoriten-Kreis gehört, kann er die Stärken seiner Konkurrenten gut einschätzen. „Ich denke, dass Daniel Deusser derzeit eine Super-Form hat. Aus den Top-30 der Weltrangliste sind ja auch gefühlt fast alle da, und von den 40, die an den Start gehen, können 35 sicher den Grand Prix gewinnen. Da ist es schwer, Favoriten herauszusuchen.“ 

Wenn es nach den Wünschen des heimischen Publikums in Genf geht, steht Steve Guerdat sicher ganz oben auf der Wunsch-Sieger-Liste. Dem Schweizer Springreiter ist Gerrit bis heute super dankbar: „Ich hatte in Aachen nicht zu viel Zeit zwischen der zweiten Runde und dem Stechen. Ben hatte leider die Vorderzeug-Gabel zerbissen und wir mussten diese auswechseln und notdürftig mit Tape flicken, damit sie noch für das Stechen hält. Dann war das Stechen schon in Gange, die ersten zwei waren durch. Dementsprechend hatte ich keinen meiner Konkurrenten im Stech-Parcours gesehen. Vor dem Parcours-Abgehen hatte ich mir schon die Wendung vor der Kombination angeguckt. Kurz vor dem Einritt habe ich dann Steve Guerdat gefragt, ob man vor der Hecke rum reiten kann. Und er hat wie ganz selbstverständlich ja gesagt. Dann dachte ich, ok, dann ist das der normale Weg, den alle geritten sind.“ Als er bei der entscheidenden Wendung dann das Raunen im Publikum hörte, war Gerrit Nieberg klar, dass es wohl doch nicht der normale Weg war.  Gerrit erinnert sich: „Für mich hat es super gepasst. Es war auch sicher besser so, dass ich nicht wusste, dass die anderen da nicht lang geritten sind. Sonst hätte ich es vielleicht auch nicht gemacht. Danach habe ich dann zu den letzten beiden Sprüngen alles riskiert. Ich fand das von Steve damals eine coole Geschichte und habe ihn auch am nächsten Tag angerufen und mich für den Tipp bedankt.“ 

Fair Play ist Gerrit Nieberg wichtig. Hat er sonst noch ungeahnte Talente, von denen wir nichts wissen?

Der Springreiter lacht. Spontan fallen ihm eher ein paar Schwächen ein. 

„Kochen und Tanzen, das sind die Sachen, die ich so gar nicht kann“, verrät Nieberg. Leider kocht auch Freundin Johanna „noch nicht gut genug“. Und die muss die nächsten Zeilen auch bitte überlesen, weil sonst die Überraschung weg wäre: Gerrit möchte ihr zu Weinachten einen Kochkurs schenken. Auch wenn er weiß, dass er aus der Nummer nur rauskommt, wenn er selber mit daran teilnimmt. Dabei macht Kochen ihm nicht wirklich Spaß. Den hat er eher beim Ausgleichssport. Einmal die Woche kommt ein Personal-Trainer, der ihn fit hält. Ab und an spielt er Tennis. 

Und was ist seine schlimmste Angewohnheit: „Ich stelle mich relativ schnell in Frage. Zweifle manchmal an mir, wenn es mal nicht so gut lief. Ich hinterfrage mich dann auch sehr, was ich besser machen müsste, ich hätte besser machen können.“ 

Persönlich ist ihm am Ende eine gleichmäßige schöne Runde lieber, als immer zu viel zu riskieren. „Mal klappt es, beim nächsten Mal kommt irgendetwas dazwischen. Das ist nicht so meine Philosophie. Mir macht es Spaß, wenn ich einen Plan habe und der funktioniert. Das ist gar nicht so sehr an einen Sieg geknüpft. Ich habe lieber eine Konstanz, als immer auf Teufel komm raus zu gewinnen.“

Ein Konzept, das Früchte trägt. Der Lohn waren auch viele tolle Reisen und Erlebnisse abseits des Parcours. „Ich bin in diesem Jahr tatsächlich viel rumgekommen. Und manchmal war auch Zeit, sich etwas anzusehen. Eindrucksvoll fand ich zum Beispiel das Turnier in Doha. Da hatten wir Gelegenheit, uns die Stadt anzusehen. Wir sind Jetski gefahren und mit einem Quad durch die Wüste. Das war sehr, sehr cool. In Calgary waren wir an den Rocky Mountains. Auch das war sehr sehenswert“, erzählt Nieberg, dessen Lieblingsfach in der Schule neben Sport auch Erdkunde war.

Weihnachten feiert er mit der Familie. Wenn auch „nicht traditionell“. „Wir haben weder einen Weihnachtsbaum noch machen wir uns Geschenke. Früher, als mein Bruder und ich noch kleiner waren, hatten wir natürlich auch einen Weihnachtsbaum. Aber seit einigen Jahren machen wir das nicht mehr. Wir essen schön mit der Familie zusammen, ziehen uns ein Hemd an. Aber das war es auch schon.“  

Vor dem Fest will er nächste Woche noch mal zum Weltcup-Turnier in London. Im Januar hofft er auf eine Startgenehmigung in Basel und Leipzig. Damit er seinen Traum weiter leben kann.

Text und Interview: Corinna Philipps